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  Die heimliche Sucht

Vorwort

(Aktuelle Fassung der 18. Auflage, Erscheinungstermin 6/2002)

Dieses Buch ist das Resultat einer mehrjährigen intensiven journalistischen Recherche über das Phänomen süchtigen Essens und Erbrechens, das in der Wissenschaft als »Bulimia nervosa« bezeichnet wird und für das sich die Bezeichnung »Bulimie« eingebürgert hat. Gelegentlich wird in Analogie zur Anorexie (Magersucht) auch der Begriff »Bulimarexie« verwendet.

Durch Gespräche mit vielen hundert Frauen gewann ich die Erkenntnisse, die hier wiedergegeben sind. Bewusst habe ich mich Anfang der achtziger Jahre, als ich das Buch verfasste, zum Sprachrohr für die Betroffenen gemacht und auf die Praxis verzichtet, durch zahlreiche Quellen mein Wissen zu untermauern. Erste Priorität hatte für mich die Authentizität – das, was ich persönlich über das Leid der Ess-Brech-Süchtigen von ihnen selbst erfahren konnte. Darüber hinaus war es seinerzeit mit dem Wissen über Essstörungen im Allgemeinen und die Ess-Brech-Sucht im Besonderen nicht weit her.

Auf der Suche nach Erklärungen fand ich eigene Thesen, die nicht immer mit der Beurteilung aus wissenschaftlicher Sicht übereinstimmen müssen. Die Erkenntnisse, die in den zurückliegenden Jahren gewonnen wurden, sind selbstverständlich mit in den Text eingeflossen. Mit den Jahren sind neue Aspekte hinzugekommen, die ich berücksichtigt habe, etwa den des sexuellen Missbrauchs als Mitursache für Essstörungen oder die Problematik von Selbstverletzungen.

Ich habe versucht, das Phänomen Ess-Brech-Sucht aus möglichst vielen Perspektiven zu beleuchten und habe deshalb zu einzelnen Themen Psychologinnen und Psychologen sowie Ärztinnen und Ärzte um Beiträge gebeten. Natürlich kommen auch die Betroffenen mit Aufsätzen und Erfahrungsberichten selbst zu Wort. Zusammenhänge tiefer zu hinterfragen, Verhaltensweisen zu analysieren und Therapieansätze darzustellen habe ich zum Teil den ausgewiesenen Fachleuten und Praktikerinnen und Praktikern überlassen, die ihr Wissen über die »Modekrankheit« Ess-Brech-Sucht gewaltig erweitert haben, seit dieses Buch 1985 zum ersten Mal erschien. In der vorliegenden Ausgabe sind die aktuellen Erkenntnisse wiedergegeben und neue Beiträge eingefügt.

Mein Buch richtet sich in erster Linie an die Betroffenen selbst, daneben an all jene, die mit ihnen in irgendeiner Weise zu tun haben. Mein Buch kann, darf und soll Maßnahmen von ärztlicher oder psychologischer Seite für die Ess-Brech-Süchtigen keineswegs ersetzen. Es sollte ergänzend wirken und dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis zu fördern.

Bulimarexie ist eine überaus ernst zu nehmende Suchterkrankung. Bis vor wenigen Jahren ging man davon aus, dass diese Krankheit nicht heilbar ist, sondern nur zu einem Stillstand gebracht werden kann. Erfreulicherweise hat sich gezeigt, dass diese Annahme ein Irrtum war: Ess-Brech-Sucht ist heilbar, aber der Weg hinaus ist lang, beschwerlich, von Rückschlägen gekennzeichnet und fordert den ganzen Einsatz der Betroffenen. Der Heilungsprozess kann sich über ebenso viele Jahre erstrecken wie die Sucht selbst.

Mit meinem Buch möchte ich den Süchtigen Wege zur Hilfe und Selbsthilfe aufzeigen und zu einer ersten Orientierung beitragen. Jeder Ess-Brech-Süchtigen muss klar sein, dass ihre einzige Chance im Handeln liegt, nicht in der passiven Erwartungshaltung. Wo die Bereitschaft zur Mitarbeit fehlt, wo Passivität sich breit macht, kann kein Arzt, kein Psychologe, kann niemand der Kranken helfen. Doch auch wenn die Betroffene aktiv und fordernd Hilfe sucht, können ihr Fachleute nur den Weg weisen. Gehen muss sie ihn schließlich allein.

In diesem Buch ist fast ausschließlich von Frauen die Rede; Männer treten nur ganz am Rand in Erscheinung. Das hat seinen Grund: Im Verlauf meiner Recherchen erkannte ich Bulimia nervosa nur bei einem halben Dutzend Männern. Meine Annahme, dass diese psychische Erkrankung bei Männern extrem selten auftritt, hat sich bestätigt. Wissenschaftler schätzen, dass nur fünf, maximal zehn Prozent der Betroffenen männlich sind. Wenn Medien berichten, dass »immer mehr« Männer an Essstörungen leiden, suggeriert dies eine Dynamik, die noch keine seriöse Studie nachweisen konnte.

Mein Erklärungsansatz ist ein anderer: Das Phänomen gestörten Essverhaltens ist längst als Krankheit anerkannt und kein Tabu mehr. Deshalb bringen mehr Menschen den Mut auf, sich zu ihrem Problem zu bekennen. Nicht eine Epidemie, sondern das Öffentlichwerden (Coming Out-Effekt) bewirkt, dass auch essgestörte Jungen und Männer die Hemmschwelle überwinden und professionelle Hilfe suchen. Es ist also nicht der Anteil der männlichen Betroffenen drastisch gestiegen, wie oft suggeriert wird, sondern die Zahl derjenigen, die sich zu ihrer Essstörungen bekennen.

Dass fast ausschließlich Frauen vom Essen abhängig werden, liegt wohl in erster Linie an geschlechtsspezifischen Rollenzwängen, Rollenkonfusionen, einem unrealistischem und kaum erreichbaren Schönheitsideal und konventionellen Erziehungsmustern. Typisch weibliche »Qualitäten« wie Anpassungsfähigkeit, Einfühlsamkeit, Selbstlosigkeit, Weichheit begünstigen die Kompensation von innerpsychischen Konflikten durch Essen und Erbrechen. Trost bei der Nahrung zu suchen, gilt als schwach und typisch weiblich. Solches Verhalten harmoniert nicht mit dem gängigen Männlichkeitsideal. Traditionell flüchten Männer eher in den Alkohol oder greifen zu Drogen.

Im Zuge der Emanzipation »bewältigen« jedoch auch immer mehr Frauen ihre Lebenskonflikte mit dem Griff nach der Flasche. Es ist kein reiner Zufall, wovon Menschen, die für süchtiges Verhalten disponiert sind, abhängig werden. Welcher Droge ein Mensch verfällt, hängt u.a. mit familiären Faktoren, mit der Erziehung, der Sozialisation und der Verfügbarkeit der Droge zusammen. Mit einem sich wandelndem männlichen Rollenbild (weicher, sensibler, partnerschaftlicher), mit dem wachsenden Gesundheits-, Körper- und Schönheitsbewusstsein des Mannes wird aber auch Essstörungen wie Mager- und Ess-Brech-Sucht bei Männern der Boden bereitet. Und die Medien, die Werbebranche und die Modeindustrie arbeiten kräftig daran mit.

Der soziale Druck durch ein rigides Schlankheitsideal auf männliche Jugendliche und Männer ist zwar vergleichsweise gering. Aber beispielsweise dort, wo sportliche Leistung davon abhängt, wie wenig man(n) auf die Waage bringt, lauert die Gefahr. Sportler erleben ihren Körper als ein Instrument, das sie beherrschen und kontrollieren müssen und sind zwangsläufig stark körperfixiert. Sie unterziehen sich, wie viele Frauen, Diäten. Das weibliche Schlankheits- und Schönheitsideal findet im Körperideal mancher Sportarten eine spezifische, männliche Entsprechung, etwa bei Jockeys, Boxern, Läufern, Skispringern und Schwimmern. Von hier ist der Weg nicht weit bis zur Fixierung auf Figur oder Gewicht und Essen - ein Leitsymptom jeder Essstörung. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie mangelndes Selbstbewusstsein, Perfektionismus, starke Leistungsorientierung, aber auch Rollenkonfusionen und Probleme mit der männlichen Identität erhöhen das Risiko, über dem Streben nach dem Ideal mager- oder ess-brech-süchtig zu werden.

In der Überflussgesellschaft prallen die Gegensätze hart aufeinander: dem Ideal, schlank zu sein, steht ein Überangebot von Lebensmitteln gegenüber. Figur und Gewicht sind äußere Gradmesser für den Erfolg und die gesellschaftliche Attraktivität des einzelnen. Auch wenn Sinn und Unsinn von Diäten inzwischen öffentlich diskutiert werden, ist Schlanksein doch wichtiger denn je. Der kollektive Schlankheitswahn fordert seine Opfer. Mehr und mehr Menschen büßen die Lust am Essen ein und machen sich das Abnehmen zur Lebensaufgabe.

Nur Aufklärung kann dazu beitragen, dass der Schlankheitswahn nicht noch mehr Opfer fordert. Denn am Anfang jeder Ess-Brech-Sucht stand das zwanghafte Bemühen, abnehmen zu wollen.

Hunger, der aus dem Hirn kommt, ist stillbar – sofern alle mithelfen und die Ess-Brech-Sucht nicht nur als Krankheit (an)erkannt, sondern auch als gesellschaftliche Herausforderung angenommen wird. Konkret heißt dies: Es müssen mehr Hilfsangebote geschaffen und staatlich gefördert werden, Forschungs- und Aufklärungsarbeit müssen intensiviert, Prävention muss endlich groß geschrieben werden. Prävention bedeutet unter anderem, die gesetzlich garantierte Gleichstellung von Frau und Mann gesellschaftlich umzusetzen und Frauen Autonomie zu ermöglichen.

Leider steckt das politische Bewusstsein für diese Probleme noch in den Kinderschuhen, und seiner Ausbildung stehen nicht zuletzt harte wirtschaftliche Interessen entgegen. Deutlich wird das am Beispiel einer lobenswerten Initiative der britischen Frauenministerin Tessa Jowell. Sie hatte eine Kampagne gegen Mager- und Essbrechsucht im Königreich gestartet und spindeldürren Modells wie Kate Moss und Teenie-Stars wie Victoria Beckham von den Spice Girls kurvenreichere Weiblichkeit à la Sophie Dahl entgegengesetzt. Jowell hatte das Thema praktisch zur Chefsache gemacht, indem sie Regierungsmitglieder, Modemacher, Chefredakteure von Frauenzeitschriften und Ernährungswissenschaftler zu einem Gipfeltreffen eingeladen hatte. Der Erfolg blieb aus: Die Herausgeber der Mode- und Frauenzeitschriften »Vogue«, »Elle«, »Cosmopolitan« und »New Women« distanzierten sich umgehend von den Zielen der Kampagne. Über die Gründe lässt sich gut spekulieren.

Das Kreisen um Essen, Figur und Gewicht bindet enorme Energien und lässt an vielen Stellen den Rubel rollen. Wenn sich junge Mädchen und Frauen dieser Zusammenhänge nicht bewusst werden und kritiklos dem Schlankheits- und Schönheitskult anhängen, profitieren davon zahllose Interessengruppen, Konzerne und Wirtschaftunternehmen: Herausgeber von Mode- und Frauenzeitschriften, Diät- und Kochbüchern, Hersteller von Lightprodukten, Diätlebensmitteln und anderen »Schlankmachern«, Süßwarenproduzenten, Fitnessstudios, Mode- und Kosmetikindustrie und und und…

Die Fakten alarmieren:

  • 50 Prozent aller Elfjährigen hat sich schon mit Diäten beschäftigt
  • 25 Prozent aller Mädchen unter 12 Jahren haben Diäterfahrungen
  • 40 Prozent der normal-/untergewichtigen Mädchen zwischen 14 und 19 empfinden sich selbst als zu dick
  • 50 Prozent aller Jugendlichen bis 18 Jahre haben schon eine Diät gemacht
  • 95 Prozent aller Diäten funktionieren nicht
  • 90 Prozent aller Frauen möchten gern abnehmen
  • 70 bis 80 Prozent der Frauen essen sich nie richtig satt aus Angst, zu dick zu werden
  • 77 Prozent aller Frauen haben nicht ihre Traumfigur
  • 25 Prozent aller Frauen leiden unter Ansprüchen, die andere an ihr Aussehen stellen
  • 10 Prozent aller Dünnen empfindet sich noch immer als zu dick
  • gerade mal 1 Prozent aller Frauen ist zufrieden mit ihrer Figur
  • nur 16 Prozent aller Frauen sind aus medizinischer Sicht zu dick
  • bis zu fünf Prozent aller 12- bis 35jährigen leiden an Ess-Brech-Sucht
  • Diäten sind die Einstiegsdroge für Ess-Störungen. Wird Essen zur Droge, Erbrechen zum Zwang und die Figur zur Messskala des Selbstwertgefühls, dann braucht die Seele Balsam, der Mensch Verständnis. Wer eine Ess-Brech-Süchtige für ihre Symptome verurteilt, fördert ihren un(ter)bewussten Todeswunsch. Mit prallem Bauch und dem Kopf über der Kloschüssel sterben die Kinder des Wohlstands dem schizophrenen Ziel der Idealfigur entgegen. Wen sollte es wundern, dass eine Gesellschaft, die sich krankhaft normt, ihre Opfer, nicht aber sich selbst als gestört wahrnimmt?

    Maja Langsdorff

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